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Kapitel V Herausforderungen

Geschichte und Bewusstmachung

Seit den 1980er Jahren entwickelte sich die Kultur zu einer starken Branche. Ursache war der erleichterte Zugang zur Kultur sowie ihre Ausstrahlung. Diese Entwicklung führte zu einer grossen Anzahl an Künstler*innen auf den Schweizer Bühnen und im Ausland. Seitdem ist die Kultur ein bedeutender Wirtschaftssektor in der Schweiz. Sie schafft vielfältige Arbeitsplätze und gehört zu den öffentlichen Gütern.

Trotz eines florierenden Kulturangebots bleibt die hohe soziale Unsicherheit von Kulturakteur*innen und Künstler*innen bestehen. Das gilt für die grosse Mehrheit der in allen künstlerischen Disziplinen und Tätigkeiten arbeitenden Kunst- und Kulturschaffenden. Die Bezahlung ist unzureichend und soziale Absicherung oft nicht vorhanden. Die Situation als intermittierende*r Angestellte*r / Freischaffende*r ist keine Wahl. Sie ist das Ergebnis eines dynamischen Wirtschaftssektors, der praktisch keine Vollzeitstellen oder unbefristete Anstellungen anbietet.

Im Rentenalter beziehen fast alle Schweizer Künstler*innen Ergänzungsleistungen, da sie weder eine vollständige, noch eine maximale AHV-Rente erhalten. Aufgrund der Teilzeitarbeit, die meist mit einer Aufsplittung der Erwerbstätigkeit einhergeht, werden keine ausreichenden AHV- und BVG-Renten erreicht. Mit der Covid-19-Krise wurde die extreme Prekarität der Kulturschaffenden auf dramatische Weise sichtbar. Mehrere von den Sozialpartnern durchgeführte Einkommensstudien zeigen, dass das durchschnittliche Realeinkommen kaum mehr als 2 500 bis 3 000 Franken pro Monat beträgt. Obwohl Künstler*innen hoch qualifiziert sind und in anspruchsvollen Berufen arbeiten, betragen die höchsten Monatsgehälter in den Lohntabellen um die 4 500 bis 5 000 Franken, wobei weder das Alter noch die Erfahrung dieser Berufsgruppen berücksichtigt werden. Das Medianeinkommen in der Schweiz liegt bei über 7 000 Franken (OCSTAT 2019). Die Lohnempfehlungen von Gewerkschaften und Berufsverbänden sollten diesen Umstand berücksichtigen.

Das Ende der Romantik

Die Wahrnehmung künstlerischer Arbeit wird durch verschiedene soziale und symbolische Faktoren verzerrt. Die künstlerischen Tätigkeiten sollten als echte Arbeit betrachtet werden. Die Einkommen sind zu erhöhen und an die entsprechenden Lohntabellen, sofern vorhanden, anzupassen. Alles in allem ist es zwingend notwendig, sich von der romantisch-verklärten Sichtweise zu verabschieden. Es ist erschreckend, dass sich die Vorstellung, nur sehr bekannten Künstler*innen stehe eine angemessene Bezahlung zu, immer noch hartnäckig hält. Dies führt zu nicht entschuldbarem Leid und Ausbeutung, bis hin zur Selbstausbeutung der Künstler*innen. Ein Genie existiert nicht von selbst, sondern wird de facto von anderen zum Genie erklärt. Talent hingegen kann man nicht improvisieren. Talent ist nichts ohne harte Arbeit und jede Arbeit verdient eine Bezahlung. Übrigens entstehen immer mehr Kunstwerke in kollektiver Zusammenarbeit. Die Person, die ein Projekt trägt und/oder konzipiert ist nicht unbedingt die einzige Person, die an der Entstehung eines Werks mitwirkt. Demnach sollte das Urheber*innenrecht allen Urheber*innen gemeinschaftlich zustehen.

Illusion vom Status der Selbständigkeit

Im Kulturbereich hat der Status der Selbständigkeit in den meisten Fällen prekäre und unsichere Lebenssituationen zur Folge. Die Künstler*innen müssen sich mit administrativen Auflagen, der Suche nach Finanzierung und dem Management ihrer Karriere auseinandersetzen und haben keinerlei soziale Absicherung. Um diesen Berufsstatus zu erhalten, was nicht so einfach ist, müssen sehr strikte Kriterien erfüllt werden.

Trotz der angeblich kreativen Freiheit erfüllen Künstler*innen häufig sehr genaue vertragliche Vorgaben, die eher einem Subordinationsverhältnis entsprechen. Die mit dem Arbeitnehmer*innenstatus verbundenen Rechte haben sie allerdings nicht. In der neoliberalen Wirtschaftspolitik wird der sogenannte „unabhängige“ Kunstschaffende mit dem Status Selbständigerwerbend indirekt gefördert, denn die arbeitgebenden Kulturunternehmen sind in diesem Fall nicht verpflichtet und auch nicht dafür verantwortlich, Sozialversicherungsbeiträge für die Kunstschaffenden einzuzahlen. Auf einen Nenner gebracht: Die Lebensbedingungen der Personen, die sich in der prekärsten Situation befinden, werden in einem System, das es ihnen nicht ermöglicht, mit einer würdigen Rente alt zu werden, immer prekärer. Es ist daher entscheidend, einen Status der Tätigkeit entsprechend wählen zu können.

Um den gesamten Kultursektor zu verbessern und zu stärken ist eine bessere Kenntnis des rechtlichen Status von Berufen im Kulturbereich erforderlich, sowie die Einführung von Fördermassnahmen, die mit spezifischen Informationen einhergehen.

Zeit zu handeln

Es besteht dringender Handlungsbedarf auf allen Ebenen, besonders auf nationaler Ebene: Künstler*innen müssen einen echten Platz in unserer Gesellschaft bekommen und einen Lohn erhalten, der es ihnen ermöglicht, von ihrer Arbeit zu leben und im Alter eine würdige Rente zu beziehen.

Zahlreiche Berichte weisen auf die zunehmende Prekarität der Künstler*innen im Rentenalter hin. Besonders hart trifft es die Frauen. Darüber hinaus ist es zwingend notwendig, gegen jede Form von Benachteiligung vorzugehen und Parität in den bestbezahlten leitenden Positionen durchzusetzen.

Um diese inakzeptable Situation der Kunst- und Kulturschaffenden bei Renteneintritt zu verbessern, muss die Kultur mit angemessenen finanziellen Mitteln ausgestattet und ein dynamischer und kohärenter Aktionsplan entwickelt werden.

Alles ist Politik!

Die prekäre Situation der professionellen Kunst- und Kulturschaffenden ist ein aktuelles Thema, mit dem sich auch die administrativen und politischen Behörden des Landes beschäftigen. Eins der sechs Handlungsfelder der aktuellen „Kulturbotschaft des Bundes 2025-2028“ ist diesem Thema gewidmet. Dies ist ein bedeutender Schritt, der die Handlungsbereitschaft der Behörden bekundet. Das Ziel ist jedoch noch lange nicht erreicht, da die dringend notwendige Umsetzung in konkrete und effiziente Massnahmen auch weiterhin eine grosse zu bewältigende Aufgabe sein wird.

Die finanziellen Mittel für den Kultursektor werden regelmässig in Frage gestellt. Kultur gilt nicht als unentbehrlich und ist deshalb der erste Sektor, bei dem Budgetkürzungen vorgenommen werden. Gleichwohl sind Angebot und Nachfrage vorhanden. Zahlreiche Studien bestätigen die positiven Auswirkungen des Kultursektors auf die Wirtschaft: „Ein einziger in die Kultur investierter Franken bringt einer Region mindestens drei Franken ein“. Aber über den wirtschaftlichen Aspekt hinaus, gehört die Kultur allen. Die Kultur ist nicht nur vielfältig, sondern auch innovativ und appelliert an unsere Erwartungen und Zukunftspläne. Sie fördert soziale Bindungen und gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Was soll man dazu sagen!?

Die AHV erfüllt immer noch nicht den Verfassungsauftrag nach Artikel 112 der Bundesverfassung, denn sie ist nicht in der Lage, die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Um diesem Ziel näher zu kommen, sind Ergänzungsleistungen notwendig. Die 2. Säule, die berufliche Vorsorge (BVG), ermöglicht ihrerseits nur einer Minderheit, sich dem bisherigen Lebensstandard anzunähern. Sie ist eine höchst ungleiche Einrichtung, die nur Personen mit den höchsten Einkommen zugutekommt. Die Unterschiede zwischen den niedrigsten und den höchsten Renten sind enorm. Die Ersparnisse, die über die dritte Säule angesammelt werden, bleiben gering und den Personen vorbehalten, die über die Mittel zum Sparen verfügen.

Die BVG-Rente gilt als Einkommen, das bei der Berechnung zur Bestimmung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen angerechnet wird. Dies hat zur Folge, dass die Ergänzungsleistungen für Personen gekürzt werden, die während ihres Berufslebens Beiträge gezahlt haben und denen genau diese Beiträge während des Berufslebens als Kaufkraft gefehlt haben. Deshalb braucht es dringend die Einrichtung eines Sonderfonds für Künstler*innen im Ruhestand. Mit Blick auf die Zukunft ist eine Reform des Rentensystems notwendig, mit der Schaffung einer einzigen öffentlichen und solidarischen Säule. Nur so kann ein angemessener Lebensstandard für die gesamte Bevölkerung gewährleistet werden.

Quellen

Schweizerische Eidgenossenschaft, Bundesamt für Kulture (BAK)
Kulturbotschaft

Schweizerische Eidgenossenschaft, Bundesamt für Statistik (BFS)
Kulturwirtschaft

Hochschule für Betriebswirtschaft Genf, José V. Ramirez et Joëlle Latina,
Das Gewicht der kreativen und kulturellen Wirtschaft in Genf (nur auf Französisch) 

RP – Rencontres professionnelles de danse
Persönlichkeitsschutz – bewährte Praktiken une Quellen (FR / ENG)

SSRS – Syndicat suisse romand du spectacle
Du salaire médian vaudois (nur auf Französisch) 

VISARTE
Studie: Kunstberuf und Familie 

Zürich Centre for Creative Industries (ZCCE) und die Stadt Genf
Les empreintes créatives (nur auf Französisch)